Das Symposion widmet sich der Zukunft des Dramas auf dem Stadt- und Staatstheater und in der deutschen Gegenwartsliteratur. Dazu soll das drohende Verschwinden der Gattung mit seinen Ursachen und Implikationen aus unterschiedlichen Perspektiven – poetisch, literatur- und theaterwissenschaftlich, sozioökonomisch – beleuchtet und nach Impulsen geforscht werden, die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit einer 2500 Jahre alten literarischen Tradition neu anzuregen. Zu Wort kommen dabei Dramatiker und Theaterpraktiker ebenso wie Verleger, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Philosophen und Ästhetiker, deren Plädoyer dem Drama nicht nur als gesellschaftlichem Erfahrungsspeicher, sondern vor allem auch als unvergleichlichem Medium der Kultur- und Zeitdiagnostik gilt.

Seit etwa zehn Jahren zeichnet sich eine Tendenz immer deutlicher ab: Das Drama wird von den deutschen Bühnen verdrängt. Der aus der freien Theaterszene kommende Trend zu Textflächen, Performances, Stückentwicklungen und dokumentarischen Formaten, greift inzwischen immer mehr auf die Stadt- und Staatstheater über. Das liegt nicht nur daran, dass dort immer häufiger freie Gruppen für einzelne Projekte Fuß fassen, die Theater verlegen sich in ihren Spielplänen auch zunehmend auf Roman-Dramatisierungen oder gar Film-Adaptionen. Ansonsten finden sich auf den Spielplänen neben den unverfänglichen, lang erprobten Klassikern zahllose Uraufführungen von Ready-Made-Texten, die den Bühnen organisatorisch und inszenatorisch wenig abverlangen. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe ökonomischer (Spardiktat für die Kulturetats), gesellschaftlicher (zunehmende Eventkultur) und ästhetischer Art (ideologischer Einfluss der Postmoderne).

Doch nicht nur auf dem Theater fehlt das Drama, sondern auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das hat ebenso wie die Entwicklung an den Theatern vor allem ökonomische und ästhetische Gründe: Denn welcher Autor schreibt weiter Dramen im traditionellen Sinne, wenn keine Bühne sie mehr spielen will? Stattdessen werden die deutschen Stückewettbewerbe, Stückemärkte und Autorentheatertage (z. B. Heidelberg, Berlin, München, Mülheim) von Ready-Made-Texten geflutet, deren Halbwertszeit kaum ein Jahr beträgt. Studiert man die Programme und Archive dieser Einrichtungen, fällt auf, dass ihre Schnelllebigkeit seit Ende der 1990er-Jahre exponentiell zugenommen hat. Inzwischen wiederholt sich kaum ein Autorenname noch, selbst die prämierten Stücke sinken nach einer Spielzeit schnell wieder in Vergessenheit – von den übrigen, die leer ausgegangen sind, ganz zu schweigen. Darüber hinaus lassen die mageren Preisgelder kaum zu, dass sich ein Autor länger als drei Monate mit einem Stoff oder seiner formalen Umsetzung beschäftigt. Hinzu kommen rigide Anforderungen für Dramenwettbewerbe (Höchstalter der Autoren, meist 35 Jahre; Besetzungsstärke von maximal 4 Personen, evtl. sogar inklusive paritätischer Geschlechterverteilung; thematische Vorgaben, häufig tagespolitischen Inhalts), die den Warencharakter von Autor und Text deutlich zutage treten lassen. Der nach Uraufführungen gierende Markt verschlingt Jungautoren und Texte ohne Zahl. Wo nicht, werden mitunter renommierte Dramenwettbewerbe zugunsten von Performancekollektiven entschieden (2007, Mühlheimer Dramatikerpreis an Rimini Protokoll) oder gar neu eingerichtete Poetik-Dozenturen für Dramatik, wie jüngst an der Universität des Saarlandes (2012, Rimini Protokoll), an sie vergeben. Aus allgemeiner gehaltenen Literaturwettbewerben wiederum wird die Dramatik stillschweigend aussortiert, der Literaturbetrieb selbst nimmt von ihr gar keine Notiz. Die Produktionsbedingungen des Dramatikers stecken tief in der Krise und mit ihnen sein Handwerk: Einen Studiengang für Dramatik gibt es an den künstlerischen Hochschulen nicht, stattdessen wird dort Szenisches Schreiben unterrichtet. Eine Tradierung unter Autoren wiederum findet kaum statt. In der angespannten Verlagslandschaft sieht es kaum besser aus. Ins Programm der Theaterverlage werden meist nur noch Texte aufgenommen, die, den obigen Kriterien entsprechend, einen gewissen Absatz gewährleisten. In gedruckter Form erscheinen Theatertexte ausschließlich, wenn sie oder ihr Autor sich als Publikumsmagnet erwiesen haben. Die literarische Qualität der Texte spielt kaum eine Rolle.

Kaum verwunderlich also, dass sich auch die Literatur- und Theaterwissenschaft nur noch selten der Dramatik widmen – abgesehen von der literarhistorischen Forschung an Klassikern. Vor allem die Theaterwissenschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Kulturwissenschaft definiert, interessiert sich seit der Proklamation der Postdramatik (Hans-Thies Lehmann), die die ästhetischen Forderungen der Postmoderne für die Bühne reklamiert, kaum mehr für ein auf literarischen Texten basierendes Theater. Dadurch beeinflusst sie nicht unwesentlich die Spielplanpolitik der Bühnen, zumal die integrativen Studiengänge der angewandten Theaterwissenschaften (z. B. Gießen, Hildesheim) für deren Nachwuchsrekrutierung immer mehr an Bedeutung gewinnen. So wird der Einfluss der Postmoderne auf die ästhetisch-ökonomische Entwicklung an den Theatern sichtbar. Dass damit eine ganze Reihe gravierender politischer Implikationen verbunden ist, darauf hat jüngst Bernd Stegemann in seiner Kritik des Theaters hingewiesen.

Die Krise des Dramatischen lässt sich aber auch aus der Autorenperspektive beschreiben. Sie nimmt spätestens vom Zusammenbruch der Systemkonfrontation 1989/90 ihren Ausgang und ist zuletzt deutlich von Heiner Müller formuliert worden. Blickt man allerdings auf die zahlreichen Totengesänge, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts besonders für die Tragödie angestimmt wurden, zeigt sich, dass die literaturhistorische Betrachtung des Phänomens nicht auf die unmittelbare Vergangenheit und die mittlerweile widerlegte These vom Ende der Geschichte (Fukuyama) bzw. vom Ende der großen Erzählungen (Lyotard) beschränkt bleiben darf. Die direkte Beziehung des Dramatischen zu historisch-politischen wie gesellschaftlichen Konflikten und sein Umgang mit der Utopie machen seine Vitalität aus, sind aber auch immer wieder, wie etwa in gesellschaftlich-politischen Stagnationsphasen, für seine Krisenhaftigkeit verantwortlich. Umgekehrt wird eine „utopieindifferente“ Gesellschaft, die ihre Widersprüche und Konflikte aussitzt, verleugnet und harmonisiert, erwartungsgemäß Schwierigkeiten mit einer literarischen Gattung haben, die sich gesetzmäßig aus der Verarbeitung und Zuspitzung von Konflikten speist. Insofern ist es ein interessantes Phänomen, dass die Krise der Dramatik in Westdeutschland offenbar früher eingesetzt hat als in der DDR. Dementsprechend sind es zumeist ostdeutsche Autoren, die wider Erwarten bis heute an dramatischen Texten im eigentlichen Sinne arbeiten, welche allerdings, von Bühne, Literaturbetrieb und Wissenschaft weitestgehend ignoriert, in der Schublade verschwinden. Diese Entwicklung macht auch vor renommierten Autoren wie Volker Braun, Christoph Hein oder Eugen Ruge nicht halt.

Aus der skizzierten gegenwärtigen Krisensituation, die sich ökonomisch und gesellschaftspolitisch ebenso niederschlägt wie kulturell und ästhetisch, ergeben sich eine Reihe von Fragen, mit denen das Symposion tiefere Einsichten in das Wesen der Dramatik vermitteln und seine Verkettung mit der gesellschaftspolitischen Lage herausarbeiten will. Das deutsche Phänomen dient dabei nur als Beispiel für eine allgemeine Entwicklung in Westeuropa, das aber angesichts der unvergleichlichen deutschen Theaterlandschaft und -tradition sicher mehr als bloßen Präzedenzcharakter hat.

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Konzept:
Mirjam Meuser

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Die Zukunft des Dramas

Das Amphitheater des Apollon in Delphi (Ausschnitt); Foto: N. N.